Donnerstag, 24. Oktober 2013
Volkskirche ist Kirche für alle, aber nicht Kirche für alles
Einen bedenkenswerten Artikel hat Astrid Bergner unter o.g. Überschrift im Gemeindebrief "Gemeindegruss der Evangelischen
Kirche Bad Homburg-Gonzenheim" geschrieben:

Nudeln für alle mit einer bunten Soßenvielfalt: Das hat die Evangelische Kirchengemeinde Anspach an ihrem „Nudeltag“ jüngst angeboten. Mit Bücherflohmarkt und Kürbisschnitzen ging es weiter. In Friedrichsdorf gab es „Künstlertage“. Dem Evangelischen Dekanat Hochtaunus ging es um „Energie statt Nahrung“ beim Tag der Umwelt. Evangelische Gemeinden des Rheingaus traten im Rahmen der „Eltviller Rosentage“ auf, beim Jugendkulturfestival der Gemeinden in Oberstedten gab es „Impuls Action“, Workshops und einen Poetry Slam. „Krankheit im Alter vorbeugen – ist dies möglich? “ und „Schokolade“ sind jetzt Themen in Stierstadt und Weiskirchen, dort gibt es auch einen Diabetikertreff und Yoga-Kurse, und die Kirchenmäuse trafen sich zum Thema „Tolle Knolle“ bei Bauer Bickert. ction und Performance bietet die evangelische Gemeinde Wehrheim ihren Jugendlichen an, und aus Büdingen wurde vermeldet, dass die Kinderfreizeit unter dem Thema „Wasser Marsch!“ stand, und dass mit Eltern über Facebook nachgedacht wurde. Wie jedes Jahr findet auch 2013 im Oktober die „Woche des Sehens“ in den Oberurseler Gemeinden statt, bei der eine Informationsveranstaltung mit einem spezialisierten Optiker über Sehvermögen, Ursachen vermeidbarer Blindheit und sehbehinderte Menschen in Deutschland angeboten wird. Und während ich mir noch überlege, ob mir der Hardanger- Stickkreis in Bruchenbrücken oder die Lesung einer Autorin über ihre Kindheit in Masuren als Freizeitvertreib eher zusagen würde, oder was sich hinter dem Konzert „Listen-Lüstern-Lauschen“ der Paul McKenna Band verbirgt, die diesen Sommer in der ev.- lutherischen Kirchengemeinde auf Norderney auftrat, bringt der Postbote mir den Werbebrief unserer hessennassauischen Landeskirche für mehr Toleranz an die Tür, den alle evangelischen Haushalte in Hessen erhalten. Ich lege die vielen Gemeindebriefe, die mir unsere Gonzenheimer Kirchenmitglieder in den letzten drei Monaten aus anderen Gemeinden mitgebracht haben, beiseite. „Wie weit würden Sie gehen?“ steht hinten auf dem Faltbrief. „Andere Kurven kennenlernen“, fordert mich meine Kirche auf und druckt ein Foto von Fußballfans unterschiedlicher Vereine ab, die einträchtig in einer Fankurve beieinanderstehen. Kirchenpräsident Dr. Volker Jung mahnt: „An jeder Ecke fordert der Alltag Toleranz von uns.“ Im Straßenverkehr, im Urlaub, am Arbeitsplatz und im Umgang mit Verwandten und Freunden. Toleranz müssen wir üben, üben, üben, sagt der Kirchenpräsident. Ich soll in diesem Brief und auf der Actionwebseite überraschende und neue Facetten der Toleranz entdecken. Mir reicht’s. Lieber Herr Jung, da muss ich doch bloß die Angebote unserer Kirchengemeinden studieren. Ich habe nicht den Eindruck, dass es uns im Alltag an Toleranz mangelt, weder gegenüber anderen Konfessionen und Religionen, noch gegenüber jedwedem Ausdruck weltlicher Gesinnung. Wir sind als Kirchengemeinden, als Christen längst eingeübt, wir sind „duldsam, nachsichtig, großzügig, weitherzig“ – alles Wortbedeutungen von „tolerant“. Schade nur, dass Sie, lieber Herr Jung, unterschlagen haben, dass das Wort „tolerant“ auch verwandt ist mit dem englischen dull und dem gotischen dwals, das heißt „stumpf, unempfindlich, töricht“, und dem griechischen tholerós, „trübe, verwirrt, umnebelt“. Im weiteren Sinne gehört „tolerant“ auch zur Wortgruppe „Dunst“. Haben wir denn noch einen blassen Dunst, was uns Christen in unseren Gemeinden auszeichnet? Der Protestantismus versuche an die moderne Welt dadurch Anschluss zu finden, dass er seine eigene Religiosität zugunsten von Sentimentalitäten in Frage stelle – übrig bleibe ein sentimentales Gutmenschentum, meint Norbert Bolz, Professor für Medienwissenschaft an der TU Berlin in der Sonderbeilage „Toleranz“ der Evangelischen Sonntagszeitung vom 22. September: „Jeder soll glauben, was er möchte.“ Und weiter sagt Bolz: „Meiner Ansicht nach besteht Toleranz darin, die eigene Position nachvollziehbar formulieren und auch verteidigen zu können, statt sich in Umarmungen zu üben.“ Fängt das nicht beim Angebot der Kirchengemeinden an? Wo wird christliches Profil gezeigt, das für Andersdenkende erkennbar wird und so erst zum gemeinsamen Dialog führen kann? Der Praktische Theologe Christian Möller schreibt in seinem Briefen an Kirchenälteste zum Gemeindeaufbau: „Volkskirche ist Kirche für alle, aber nicht Kirche für alles.“ Ich blättere die vielen Gemeindebriefe noch einmal durch. Möller hat recht: „Nicht nur unser Tun, auch unser Lassen will gesegnet sein.“
Astrid Bergner, Gemeindegruss Okt./Nov. 2013

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